86. Derby
Ich habe das Bedürfnis, sportphilosophisch über die Hutschnur zu hauen. Nehmen Sie das, bitte, nicht übel. Es hätte auch schlimmer kommen können! Einen Augenblick: Können Sie sich zwei Trambahnwagen vorstellen, die auf eingleisiger Strecke aufeinander zufahren. Der eine von links und der andere von rechts. Wie ich aus dem ironischen Lächeln des freien Herrn Staatsbürgers Plattheimer bemerke, können Sie das. Nun gut. Die beiden Straßenbahnwagen fahren aufeinander zu. Zuerst ein bisserl rasch. Es sieht ganz gefährlich aus. Sobald sie die Gefahr erkennen, stoppen sie ab. Dann schauen sie sich eine Zeit lang grimmig an, und dann geben sie beide Gegenstrom. Fahren langsam zurück. Sie hätten auch geradeso gut mit 40-km-Geschwindigkeit aufeinander losfahren können. Da hätte es Fetzen gegeben. Bei einer Partei wären vielleicht der Scheinwerfer und die Vorderfenster kaputt gewesen, und der anderen Partei hätte man vielleicht gar den ganzen Vorderperron eingedrückt.
Straßenbahnwagenführer sind vernünftige Menschen. Sie machen so etwas nicht. Sie haben ihr festes Gehalt und können sich solche Scherze sparen. Sie fahren also zurück. Jeder zieht, sozusagen auf vulgäre Art und Weise ausgedrückt, den Schwanz ein. Und die Sache, die vorher so grausig aussah, ist vollkommen erledigt. Ist aus. Die Pointe wurde kastriert. (Durch die Finger sehen, bitte schön!)
Sehen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, so und nicht anders sind seit mehreren Jahren die in der Presse als „größtes Ereignis Deutschlands" prophezeiten Spiele zwischen dem 1. F.C.N. und der SpVgg Fürth.
Man sondiert, wägt ab. Sieht sich etwas auf die Finger, stoppt ab und geht nach Hause zu Weib und Kind. Man könnte auch wild aufeinander losgehen, dann gibt es aber Fetzen. Das weiß man ganz genau. Die beiden Parteien kennen sich genau so in- und auswendig wie die beiden oben geschilderten Straßenbahnwagen. Sie halten sich deshalb eben zurück. Nur in ganz besonderen Fällen geht man ran an den Feind, und wenn da ein Schiedsrichter kommt, der Kanonenfurcht zeigt, wird, er später disqualifiziert. So ist die Sachlage, wenn man sich einmal deutlich ausdrücken darf.
Es regnete in Strömen. Das war entweder Absicht oder schlechte Laune des Wetters. Es lässt sich nicht genau definieren. Trotzdem es aber eine Zeitlang Schnürsenkel und dann wieder zur Abwechslung Maccaroni regnete, kamen jene berühmten Kerntruppen aus den beiden Stätten, deren Stärke an die 15 000 Mann geht und deren Fußballbegeisterung unbezahlbar ist.
Diese 15000 Menschen kamen wie gläubige Kinder, die noch an das Christkindchen glauben. Sie kamen aufgeregt. Sie strömten wie heißhungrige Wölfe durch das nasse Pegnitzgelände gen Ronhof. Sie pilgerten nach Mekka, um dort Wunder zu erleben. Das höchste Heiligtum zu sehen. Sie warteten aber mit gläubigem Herzen auf Offenbarungen. Sie klammerten sich schließlich an die bekannte Lotterieloshoffnung mit dem Landhaus oder der Opel-Pullmann-Limousine um 50 Pfennig. Der Einsatz bei diesem Spiel war noch bedeutend höher. Trotz alledem kam niemals ein Treffer heraus. Lauter kleine Trefferchen, der Rest war Nieten.
Es war Schall und Rauch. Manches mal nur Rauch. Neunzig Minuten lang auf diesem regentriefenden Gras zu spielen, ist sehr schwer. Das wissen wir alle und weiß auch der Hinz und der Kunz, der sogar von seinen Mitmenschen als Depp bezeichnet wird. Wir kennen also, schon vorneherein die Einwände, die uns Fanatiker bringen wollen. Wir weisen diese Einwände aber in dem Bewusstsein zurück, dass wir oft einen „Stiefel" gesehen haben, den nicht einmal der Regen wegschwemmen konnte.
Ich kaufte mir vor dem Spiel eine „Neue Sonntagszeitung". Ein Herr, der sich anscheinend an die sportliche Hochkonjunktur Nürnberg-Fürths inbrünstig klammert, schrieb folgende Vornotiz: „... und nicht nur Nürnberg-Fürth, die ganze Sportwelt des Fußballs wird dieser bedeutsamen und hochinteressanten Begegnung des Alt- und Neumeisters (so heißt auch mein Friseur zufälligerweise. Der Verf.) höchste Aufmerksamkeit zollen..." Der Mann hat recht, und sie haben alle gezollt.
Nur die wir dabei haben, haben ihre „höchste Aufmerksamkeit" bald einstellen müssen. Wenn man nämlich gesehen hat, wie mancher Stürmer von internationalem Ruhm während des ganzen Spieles keinen Ball einwandfrei oder überhaupt stoppen konnte. Wenn man gesehen hat, wie die Flügelstürmer entweder gar nicht bedient oder beim Mittelstürmer herumkrauchten und die eigenen Kollegen auf die Beine schlugen. Wenn man gesehen hat, wie anerkannte Kapazitäten des saftigen und unhaltbaren Torschusses acht Meter vor dem Tor auf den Ball bolzten, als wäre es ein rohes Ei und das Tor einen Millimeter entfernt oder nur zwei 1 Zentimeter breit. Wenn man gesehen hat, wie das Innentrio des 1. F.C.N. überhaupt keinen außerordentlichen Gedanken, keine fesselnde und preiswerte Idee aufbrachte.
Wenn man gesehen hat, wie die 90 Minuten herunterschlichen und uns um den erwarteten Inhalt betrogen. Wir hatten Edelsteine erwartet und bekamen nur Talmi serviert. Noch so ein Match, und es wird als grober Unfug bestraft, wenn ein Journalist noch einmal so ein Treffen als „größtes Ereignis Deutschlands" zu bezeichnen sich erkühnt. Das ist falsch und bewusst falsch deklariert. Die Mannschaften kamen komplett. Die „wilden Gerüchte" der Vereinspimperl entpuppten sich als Blindgänger. Auf jeder Seite waren alle Mann an Bord.
Es ging sehr lendenlahm an. Trotzdem brachte es der Klub bald auf seine erste Ecke, weil Strobel etwas ungestüm und vollkommen ungedeckt durchkam. Die Ecke ging - wie immer: in solchen Fällen - jenseits der Linien nieder. Der weitere Hauptkampf spielte sich im Mittelfelde ab. Beide Parteien kämpften ehrlich und bieder um den Ball. Einmal schoss Hochgesang ganz schön, aber erfolglos. Kalb hatte mit dem nassen Boden schwer zu kämpfen. Das merkte man gleich. Dagegen stand Leinberger bedeutend sicherer auf dem glatten Grase. Eine Ecke für Fürth verlief sich ebenfalls im Regen. Fürths Angriff lief sehr gut, aber die letzte Energie im Strafraum fehlte oft ganz bedenklich. Besonders bei Ascherl. Hin und wieder aber hatte Ascherl gute Momente. Einmal konnte Stuhlfauth einen gefährlichen Weitschuss gerade noch über die Kabine lenken. Die folgende Ecke wurde abgewehrt. Fürths Gesamtleistung war bedeutend besser. Darüber waren sich die Parteien einig.
Der Sturm hatte wenigstens Ideen und ein bisserl Schmalz. Der Klubsturm arbeitete sich nur sehr schwer und wie ein mittelmäßiger Schüler durch sein Pensum. Das Nürnberger Tor kam deshalb bedeutend öfter in Gefahr, und Stuhlfauth musste die verschiedensten Parademärsche klopfen. Der Schiedsrichter sah seinen lieben Kanonen feste auf die Finger. Er sah alles und pfiff alles ab Bei diesem Spiel die richtige Manier. Als Kalb einmal „reden" wollte und eine Abseitsentscheidung lebhaft bekrittelte, verwarnte man ihn einfach, aber herzlich. Als der Nürnberger Sturm durch Schmidt II eine feine Chance hatte, konnte Hagen in letzter Sekunde noch ausräumen. Dann kam die dritte Ecke für Fürth. Einen Weitschuss von Franz konnte Stuhlfauth nur noch in kühnem Sprunge über die Latte dirigieren können. Überflüssig zu sagen, dass die Ecke etwas einbrachte. Die Fürther Angriffe blieben weiterhin gefährlich. Der Klub schoss zur Abwechslung seine zweite Ecke systematisch hinter die Linien. Bald darauf versiebte Franz eine todsichere Sache, weil er nicht rasch genug startete. Im nächsten Moment hatten die Nürnberger zwei ganz sichere Chancen, aber die Glücksgöttin verhüllte gschamig ihr Haupt. Sehr schön war dann, wie Neger rettete, während ein unfaires Angehen Hagens an Strobel keineswegs erfreulich aussah. Franz und Hochgesang ließen dann noch rasch je eine Chance aus, und dann waren die 45 Minuten um.
Die Menge murrte auf den Rängen. Manche Leute träumten von den „kommenden Toren". Fanatiker rechneten vielleicht sogar mit einem Siege der Nürnberger. Nur daran, dass diese zehn Stürmer auch in den zweiten 45 Minuten kein einziges Tor fertig bringen würden, daran dachte schließlich keiner. Ein scharfer Weitschuss Leinbergers brachte einigermaßen Stimmung in die Geschichte, wurde aber trotzdem gehalten. Als dann Seiderer den ballhaltenden Stuhlfauth anging, gab es einen kleinen Freundschaftsknuff, und 120 Minuten später sagte selbst Seiderer, dass die Sache nur momentan etwas schlimm gewirkt hatte. Seiderer war gleich wieder da. Manche Leute können immer noch nicht begreifen, dass das Angehen des ballhaltenden Tormannes erlaubt, ja direkt vorgeschrieben ist, und klammern sich ängstlich an die „Sonderregeln für Nürnberg-Fürth" (Lohrmann wirkte hier besonders bahnbrechend!). Da kann man nichts machen. Fürth demonstrierte dann eine kleine Angriffsserie, ohne die Spannung durch einen befreienden Torschuss auslösen zu können. Als dann die Fürther Flügelstürmer auf die gleiche Manier wie die Nürnberger Kollegen verfielen, nämlich nicht mehr Platz zu halten, musste jede Aktion verpuffen. Zehn Minuten brauchte der Klub nach der Pause, bis er zum ersten Angriff kam, da man wirklich als „Angriff" bezeichnen konnte. Gefährlich war auch dieser Angriff noch nicht. Stuhlfauth dagegen konnte sich über Arbeitslosigkeit nicht beklagen. Einen Strafstoß von Franz hätte die Nürnberger Verteidigung beinahe ins eigene Tor befördert. Die vierte und fünfte Ecke für Fürth änderten nichts an der Sachlage. Eine ganz feine Sache des rechten Fürther Flügels verschoss Ascherl.
Dann brachte Seiderer auf ziemlich kurze Entfernung den Ball nicht ins Gehäuse, was allgemein verwunderte. Nach 17 Minuten Spieldauer wurde der Klubsturm das erstemal gefährlich. Als Seiderer gegen Kugler unnötig faul spielte, wurde er verwarnt, was noch einige Dialoge der Beteiligten auslöste, aber nicht besonders erhebend aussah. Fürth ließ nun allgemein etwas nach. Der Mittelläufer Leinberger zollte dem „toten Punkt" einige Zeit seinen Tribut, und auch der Sturm spielte so, als ob er längst mit einem Vorsprung von drei Toren in Sicherheit sei. Nürnberg ergriff nun die Initiative, und im Fürther Strafraum gab es verschiedene gefährliche Momente, die mit Glück vorübergingen. Im Verlaufe der Nürnberger Sturmund Drangperiode fällte der Schiedsrichter einige Fehlentscheidungen gegen Nürnberg. Auer verschoss eine gefährliche Sache, und Neger konnte einen Strafstoß Kalbs gerade noch mit dem Fuß abwehren. Die Fürther spielten dann weiterhin sehr verhalten, wodurch die ganze Angelegenheit nur noch uninteressanter wurde. Als Kraus sein beliebtes Handspiel produzierte, verwarnte ihn der Schiedsrichter. In den letzten zehn Sekunden hätte Träg beinahe noch den Kampf entschieden. Er hatte den Ball, stand allein vor dem Tor, und der Fürther Tormann lag am Boden. Träg brachte aber das Kunststück fertig, das Tor trotzdem zu ignorieren. Das will was heißen, wenn man bedenkt, dass ein Tor 7,30 Meter breit ist. Es scheint aber doch die himmlische Gerechtigkeit die Hand im Spiel gehabt zu haben.
Über das Fürther Hintertrio gibt es nur ein Wort zu sagen: eisern. Neger im Tor stellte ganz seinen Mann. Nur hin und wieder brachten ihm seine Kollegen ein Misstrauensvotum dar und erschwerten dem Mann die Arbeit sehr; schufen sogar kitzliche Lagen dadurch, wie dies Kleinlein einmal bewies. Müller-Hagen brillierten mit sauberen Schlägen und sicheren Vorlagen. Sie standen zwar in der ersten Halbzeit niemals gestaffelt, sondern hübsch nebeneinander, es passierte bei diesem Klubsturm aber trotzdem kein Unglück. Der Fürther Mittelläufer Leinberger hatte wieder einmal einen seiner größten Tage.
Vor acht Tagen soll er mehr als versagt haben (Bayreuth!) und am Sonntag war er besser als Kalb, viel besser sogar. Die Rätsel in den Seelen unserer Fußballer werden wohl niemals ganz erklärt werden können. Krauß trat zeitweise als Exzentrik-Clown auf. Leute auf den Rängen maulten deswegen und sagten: „Ekelhafte Mätzchen!" Ich war Krauß dafür dankbar. Er wollte nämlich in den lendenlahmen Klubsturm Leben bringen. Lächerlichkeit tötet bekanntlich. Und das weiß Kraus. Bei einem wirklich gefährlichen Gegner hätte er sich das auch niemals erlaubt. Kraus ist das Talent. Das Genie bricht schon stark durch. Er soll deswegen aber um Gotteswillen keinen Größenwahn kriegen, denn das habe ich wirklich mit diesen Worten nicht gewollt. Kleinlein spielte einige Male sehr unsauber und leichtsinnig ab. ließ sich mehrere Male die Bälle durchgehen, deckte aber im Allgemeinen noch zufriedenstellend. Seiderer arbeitete nach bewährtem Rezept, aber etwas vorsichtig. Wenn man lädierte Kniescheiben hat, kann man dies verzeihen. Einige Vorlagen Seiderers waren zu Toren geboren. Es wurden totgeborene Kinder, da die Nebenleute nicht gefasst waren. Franz gab seinen Gegnern schwere Exempel auf, stoppte sauber und brachte auch sonst den Angriff in Schwung. Ascherl hatte sehr gute Momente, aber auch sehr schwache. Die Außenstürmer Weiß und Auer konnten keineswegs imponieren und arbeiteten oft sehr unrationell. Man sah schlechte Starts, aber einige gefährliche Flankenbälle und technische Einzelleistungen. In seiner Gesamtheit war der Fürther Sturm aber immerhin 75 Prozent besser als der Nürnberger.
Der Nürnberger Sturm arbeitete. Darüber gibt es keinen Zweifel. Es gibt Leute, die zehn Stunden arbeiten und doch nicht soviel fertig bringen wie andere Menschen, die nur zwei Stunden arbeiten. Damit ist die Leistung des Klubsturmes einwandfrei definiert. Wieder und Hochgesang spielten saft- und kraftlos. Ohne jede Begeisterung, die 15 000 Zuschauer verlangen können. Schmidt II zu jung, um zwei solch erprobte Maschinen mit unendlichem Ungestüm in Betrieb setzen zu können. Er musste infolgedessen mit den Wölfen heulen. Träg ging mit einer Verletzung ins Gefecht; ob er so stark gehandicapt war, dass er tatsächlich nichts Besseres zeigen konnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Strobel wurde selten ins Gefecht geschickt. Einige Male griff er sehr rassig und gefährlich an; da die Unterstützung von innen fehlte, verpufften seine Aktionen naturgemäß.
Kalb hatte einen schweren Stand. Der Boden lag ihm nicht. Er hat aber auch bei solchem Boden schon viel bessere Tage gesehen. Dies war keine Musterleistung. Allerdings soll auch Kalb noch verletzt gewesen sein (warum stellt man dann eigentlich ihn auf??). Schmidt I stellte, wie immer, ganz seinen Mann. Köpplinger spielte ohne große Geste, aber aufmerksam. Kugler-Popp ließen keinen Wunsch offen und klärten hervorragend. Stuhlfauth war stark beschäftigt, hatte aber nur wenige wirklich gefährliche Sachen zu erledigen, und das machte er mit Ruhe.
Der Schiedsrichter war uns allen unbekannt, hatte aber keine Kanonenangst. Das war uns allen sehr sympathisch. Nur auf lange Unterhaltungen darf er sich nicht einlassen. Abgesehen von den bereits erwähnten Fehlentscheidungen war er überaus zufriedenstellend und sicher.
|